Chinas Wirtschaft leidet unter einer Immobilienkrise, hoher Verschuldung, Exportkontrollen und Handelsbarrieren. Auf der jüngsten Amundi Investment Konferenz analysierte Björn Conrad, CEO von Sinolytics1 und einer der renommiertesten China-Experten des Landes, den Stand der schwierigen wirtschaftlichen Transformation im Reich der Mitte. Warum er trotz aller Stolpersteine nicht mit einer plötzlichen Wirtschaftskrise der aufstrebenden Macht rechnet, erläuterte er im ausführlichen Interview.

Herr Conrad, warum konkret kam der langjährige Wachstumsmotor der Weltwirtschaft ins Stottern?

In der letzten Dekade war das erklärte Leitmotiv der chinesischen Regierungen die Transformation von der „Werkbank der Welt“ zur technologischen Supermacht. Ich würde sagen, dieser Weg ist bereits zu 80-90% beschritten. Doch mit der Pandemie und der neuen Rivalität mit den USA kam dann unerwartet starker Gegenwind. Die alten Wachstumstreiber Chinas – wie etwa die starke Exportorientierung – schwächeln momentan, während neue Treiber, beispielsweise der Binnenkonsum, noch nicht so richtig ziehen. 

Andere Länder haben auch stark unter der Pandemie gelitten, sich aber nun schneller erholt. Wieso traf es China so hart?

Man kann sagen, die Pandemie kam für China zu einem besonders schlechten Zeitpunkt, auf der besonders anspruchsvollen Zielgeraden auf dem Weg in ein neues Wachstumsmodell. Das lässt sich gut am so wichtigen Immobiliensektor festmachen: Hier war es bereits vor Ausbruch der Pandemie zu Blasenbildungen bei riesigen, staatlich subventionierten und gesteuerten Entwicklungsprojekten gekommen. Viele dieser Investitionen waren stark gehebelt, was enorme Risiken mit sich bringen kann, die dann im Zuge der Pandemie schonungslos offengelegt wurden. Einen dramatischen Zusammenbruch erwarten wir aktuell aber trotzdem nicht, denn der gesamte Sektor ist „too big to fail“. Den sozialen Sprengstoff, wenn zahllose Privatanleger auf bezahlten, aber nur halbfertigen Wohnungen sitzen bleiben, kann sich die chinesische Regierung nicht leisten. Auch deshalb wird sie letztlich mit allen politischen Mitteln für eine sanfte Landung der Immobilienwirtschaft sorgen. Aber als zentraler Wachstumstreiber fällt der Bereich definitiv für längere Zeit aus.

China war ja traditionell sehr erfolgreich mit seinen Stimulus-Maßnahmen. Das könnte doch auch diesmal greifen?

Die Situation ist heute eine andere: Nun, da das Konsumentenvertrauen in China darnieder liegt, ist es viel schwieriger, für individuelle, private Nachfrage zu sorgen, als noch einen Großflughafen zu bauen. Ja, es gibt zwar Stimulus, aber eher halbherzig und nicht mit der Intensität, die man erwarten dürfte. Zudem gehen die Stimulus-Maßnahmen aktuell nach altem Rezept wieder verstärkt in den Aufbau von Industriekapazitäten. Das führt letztlich zu einer geringen industriellen Auslastungsquote, einem stärkeren Fokus auf den Export und den dazugehörigen geo- und handelspolitischen Spannungen, wie wir sie nun häufiger sehen. Dass China zudem am Rande der Deflationsspirale balanciert, verkompliziert die Lage zusätzlich. 

Diese Entwicklungen werfen die Frage auf, warum die chinesische Regierung derzeit nicht deutlicher eingreift, wie wir es in der Vergangenheit immer wieder gesehen haben?

Zur Frage, ob sie nicht wollen oder nicht können, zeigen unsere Analysen ein differenziertes Bild: Den lokalen Regierungen in den Provinzen und Städten – die früher oft für Stimulus in ihrer Region sorgten – sind durch Überschuldung teilweise die Hände gebunden. Auf der zentralen Ebene sind die Zahlen deutlich besser, es gäbe fiskalischen Freiraum. Doch sehen wir hier einen Zielkonflikt zwischen kurzfristigen Stimulus-Maßnahmen mit all ihren Ineffizienzen und dem Festhalten an den langfristigen Zielen einer transformierten Wirtschaft mit neuen Wachstumstreibern. Die Zentralregierung „könnte“ also, „will“ aber nicht. 

Könnte diese Situation auch zu einem Kollaps der chinesischen Wirtschaft führen?

Nein, das ist aus unserer Sicht weiterhin ein unwahrscheinliches Szenario. Die Regierung bleibt vielmehr unbeirrbar auf ihrem Kurs hin zu einem staatlich gelenkten, innovativen Wachstum insbesondere durch Zukunftstechnologien, den sogenannten „New Productive Forces“ – etwa bei Raumfahrt, Drohnentechnologie, Quanten-Computing oder KI. Und hier gibt es in China weiterhin eine einzigartige Mischung aus staatlicher Steuerung und wildem Unternehmertum mit großer Technologieoffenheit und Risikofreude, was sich in vielen Bereichen hervorragend ergänzt. Die Chancen stehen weiterhin nicht schlecht, dass dieser spezielle, dynamische Mix helfen wird, auch die letzten Meter auf dem Weg zur technologischen Supermacht zu vollenden.

Ein wichtiger Hebel auf der Zielgeraden des chinesischen Wachstumspfads könnten auch wieder die Exporte sein?

Ja, jedoch diesmal anders. Keine billige Massenware, sondern Hochtechnologie in absolut konkurrenzfähiger Qualität, jedoch weiterhin zu attraktiven Preisen. Das macht die chinesischen Mitbewerber momentan zu unangenehmen, ernsthaften Konkurrenten westlicher Industrienationen. Ganz besonders in den wachsenden Absatzmärkten jenseits Europas und der USA. Aber auch wenn China der Zugang zu den europäischen Märkten in Zukunft durch stärkere politische Hemmnisse erschwert wird, können sie auch dort in Nischen bereits erste Erfolge aufweisen. Viele europäische Unternehmen können diese neue Stärke chinesischer Unternehmen auf globalen Märkten bereits in ihren Firmenbilanzen ablesen.

1) Sinolytics ist ein europäisches Beratungs- und Analyseunternehmen, das sich auf China spezialisiert hat. Es berät europäische Unternehmen bei der strategischen Ausrichtung und den konkreten Geschäftsaktivitäten in der Volksrepublik sowie zum Umgang mit chinesischen Wettbewerbern auf globalen Märkten.

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